by Carmen Stehle

Expertisen in der Kritik

Keine Talkshow kommt heutzutage ohne Expertise aus, keine Berichterstattung, kein Kunstmarkt, kein Finanzwesen, keine Wahl, keine Katastrophe, keine Pandemie. Fachwissen ist aber auch bei kleineren Fragen des Lebens stets willkommen. Die sozialen Netzwerke sind voll mit Ratgebern, DIY-Tipps (Do-It-Yourself-Tipps) und Ansichten teils selbsternannter Sachkundiger. Das hat auch Nachteile. Welche es sind und wann und warum die Experten-Gesellschaft an ihre Grenzen stößt, erfahren Sie hier.

Spezialwissen ist gefragt

Spezifisches Wissen ist gefragt, egal, ob es sich um ein lebensbedrohliches Virus oder die Wickeltechnik von Babytrage- Tüchern, Ernährungsfragen, Sport oder die Entscheidung für die richtige Matratze geht. Schließlich beschäftigt man sich nicht den ganzen Tag mit der jeweiligen Materie. Ein/e unabhängige/r Experte/in erscheint uns dabei noch besser, denn diese/r betrachtet die Dinge neutral und verfolgt keine eigenen Interessen.

Expertise vs. gesunder Menschenverstand

Es schadet sicher nicht, einen Kurs zu machen, wenn man sein Baby im Tragetuch mitnehmen möchte. Abgesehen davon, dass so ein Kurs auch eine soziale Komponente hat, stellt sich die Frage, ob der Aufwand verhältnismäßig ist. Mütter tragen ihr Kind in Europa in der Regel selten stundenlang im Tuch, auch eher nicht täglich. Mit Experimentierfreude und im Austausch mit anderen Müttern, kommt man mit etwas Routine zum gleichen Ergebnis. Dass Arme und Beine des Kindes nicht abgeschnürt werden sollten und der Kopf optimal gestützt, kann man sich denken. Trotzdem will keine Mutter einen Fehler riskieren. Kommt jetzt ein Spezialist des Wegs (und sei er von einem Unternehmen bestellt, das im passenden Umfeld Werbung schalten will) und warnt vor häufigen Langzeitschäden wegen falschen Umgangs mit Baby- Tragetüchern, buchen vermutlich viele einen Kurs. Wir essen, was uns Experten raten und folgen Ihren
Sportanweisungen. Sie sehen schon: Experten erfüllen eine starke Funktion. Sie genießen unser Vertrauen und nehmen einem die Angst vor Fehlern.

Echte Experten, falsche Experten?

Daraus zu schließen, dass es gute und schlechte Experten gibt, wird der Sache leider nicht gerecht. Der Titel Experte ist nicht geschützt und das bedeutet natürlich, dass „Experten“ anzutreffen sind, die das Wissen, welches Sie anbieten, selbst noch nie angewandt haben. Oft werden unter der Bezeichnung „Expertise“ einfach Erfahrungen geteilt. Die Tipps sollen anderen Personen helfen, etwa Balkonpflanzen winterfest zu verpacken oder eben ein Baby richtig im Tuch zu tragen. Dabei handelt es sich um Praxis-Tipps nicht um ein überdurchschnittlich umfangreiches Fach- oder Sach- oder Handlungswissen. Denken wir im Zusammenhang mit dem Corona-Virus an Experten, handelt es sich um einen Personenkreis, der große Bedeutungszusammenhänge erkennen kann, fremdartige Strukturen versteht, viel Zeit und Übung in die qualitative Analyse gesteckt hat und die eigene Fähigkeit und Leistung in diesem Spezialgebiet richtig einschätzen kann. So definiert sich auch der Begriff des Experten.

Expertenbegriff an der Grenze

Aber auch wenn es sich in der Diskussion und Berichterstattungen zu Covid-19 um Experten per Definition handelt, bleibt festzustellen, dass selten Einigkeit unter den Profis herrschte und herrscht. Das ist der eine Vorwurf, dem sich das System der Eliten-Ratgeber ausgesetzt sieht. Ein anderer häufig genannter Kritikpunkt besagt, dass Experten nur Experten bleiben, wenn sie Ihre Kompetenzen erhalten. Der Weg als Experte anerkannt zu werden sei steinig genug. Wer sich durchgesetzt hätte, bekäme gute Honorare, die Meinung würde hochgeschätzt und sie würden womöglich für ihre Erfolge ausgezeichnet. Dieser Zustand wolle erhalten sein und das bringe Stillstand mit sich, Wandel würde abgelehnt, neue Erkenntnisse negiert oder abgetan. Kein System, das Geld und Anerkennung verdient – so die Vermutung – schafft sich selbst ab.

Neugierig bleiben, andere Sichtweisen gelten lassen

Diese Kritik mag im Einzelfall berechtigt sein, pauschal allen Profis nun Neugier und Offenheit gegenüber anderen Sichtweisen abzusprechen, geht aber zu weit. Genügend Unternehmen geben ihren Mitarbeitern durch gesteuerte Prozesse kreativen Raum, lassen sie Erfahrungen und Fehler machen, um immer wieder Neues zu lernen. Blender fliegen auf, denn wer sich selbst Experte nennt und kein Expertenwissen zu bieten hat, schafft sich am Ende des Tages selbst ab. Denn werden die Erwartungen enttäuscht, bleiben Anfragen und Buchungen schnell aus. Anders gesagt, man kann Experte sein und trotzdem offen und neugierig bleiben, sein Wissen ständig abgleichen und Wandel zulassen. Man muss es auch sein. Alle Jobs der Zukunft – ob nun Experte oder nicht – erfordern heute schon die lebenslange Bereitschaft zu lernen.
In diesem Sinne, bleiben Sie neugierig, offen und der beste Experte für Sie selbst.